Hasso-Plattner-InstitutSDG am HPI
Hasso-Plattner-InstitutDSG am HPI
Login
  • de
 

05.09.2022

„Internet-Fehlentscheidungen dürften Deutschland Multimilliarden gekostet haben“

Interview mit Prof. Werner Zorn

Prof. Werner Zorn, Leiter des HPI-Fachgebiets Kommunikationssysteme von 2001 bis zu seiner Emeritierung 2007, wird am 24. September 2022 achtzig Jahre alt. Der in Frankfurt am Main geborene Informatiker und Netzpionier setzte als einer der Gründerväter des deutschen Internets gleich mehrere Meilensteine. Nicht nur sorgte er 1984 mit seinem damaligen Team der Universität Karlsruhe dafür, dass Deutschland der vierte Staat wurde, dessen Bürger E-Mails übers Internet senden und empfangen können. 1987 - immer noch in Zeiten des sogenannten Kalten Kriegs - schloss er auch China ans Netz der Netze an. Mit dem Wissenschaftler, der wie kaum ein anderer aus eigener Anschauung Werden, Wachsen und Wandlung der deutschen Internetszenerie schildern kann, haben wir* uns unterhalten.

Prof. Dr. Werner Zorn

Ausgewählte Erhrungen und Medienberichte über Prof. Werner Zorn

Ehrungen für Prof. Werner Zorn

Ausgewählte Medienberichte über Prof. Werner Zorn


Mehr Informationen unter https://hpi.de/das-hpi/personen/professoren/emeriti/zorn.html.

Wo werden Sie Ihren besonders runden Geburtstag feiern - in Ihrem Haus in Berlin-Wannsee, nicht weit entfernt vom Hasso-Plattner-Institut, oder an Ihrem Zweitwohnsitz im Südwesten Frankreichs?

Zorn: Meine Frau und ich planen, an diesem Tag Versailles zu besuchen und sind daher in Paris.

Aufgrund Ihrer historischen Erfahrungen können Sie die Entwicklung des Internets in Deutschland mit der in den USA und in China bestens vergleichen - was waren die wesentlichen Unterschiede?

Zorn: Fangen wir mit den USA an. Diese hatten Ende Oktober 1969 das fürs Militär entwickelte Computer-Netzwerk ARPANET gestartet. Zu Beginn des Jahres 1983 wurde dieses Vorläuferprojekt dann in die Welt des TCP/IP-Protokolls migriert und bekam den Namen INTERNET. Das deutsche Forschungsministerium hingegen setzte von 1983 bis 1992, also die ersten zehn Jahre lang, auf etwas anderes: auf ISO/OSI-Standards. China entschied sich anschließend, aufsetzend auf unseren Karlsruher Vorarbeiten in den Jahren von 1987 bis 1994, von vornherein für das Internet - noch dazu für eine Direktverbindung mit den USA über eine eigene Standleitung.

In den USA stand das Militär Pate fürs Internet, in Deutschland sollte die Wissenschaft stattdessen treibende Kraft werden. Mit kräftiger Anschubunterstützung des Bonner Forschungsministeriums wurde 1984 der Verein zur Förderung eines Deutschen Forschungsnetzes (DFN) gegründet. Dem DFN-Verein kreiden Sie gravierende Fehler beim Netzaufbau in den achtziger Jahren an. Welche sehen Sie da im Vordergrund?

Zorn: Ohne Zugriff auf die Projekt-Akten der Bonner Ministerien im Zeitraum 1981 bis 1982, die leider nicht in dem dafür vorgesehenen Koblenzer Bundesarchiv vorhanden sind, lässt sich die Frage nicht lückenlos beantworten. Aber genau in diesem Zeitraum gab es in Zusammenhang mit dem DFN offensichtlich zwei entscheidende falsche Weichenstellungen, die Deutschland in der wichtigen Anfangsphase aufs Abstellgleis brachten, in eine Sackgasse hineinmanövrierten. Beide betrafen die im Netz zu verwendenden Technologien. Es ging um die Entscheidung, ob von Normungsgremien definierte ISO/OSI-Standards eingesetzt werden sollten oder die in US-Regie von Arbeitsgruppen in einem fortlaufenden Prozess weiterentwickelten Internet-Standards sowie die Anfang der achtziger Jahre gesondert entwickelten E-Mail-Standards des Computer Science Networks CSNET aus den Vereinigten Staaten.

Obwohl eine Kommission des Forschungsministeriums im September 1981 auf einer USA-Reise positive Eindrücke von der Internet-Architektur gesammelt und in ihrem Schlussbericht eine Zusammenarbeit empfohlen hatte, gab es Anfang März 1982 bei einem DFN-Treffen in Hamburg die erste Fehlentscheidung in Richtung OSI. Zur gleichen Zeit lief in den USA die Umstellung von ARPANET zum TCP/IP-basierten Internet bereits auf Hochtouren.

„Als Admin-C hatte ich die E-Mail-Adresse zorn@germany“

Die zweite fehlerhafte Weichenstellung betrifft den E-Mail-Zugang zum Internet. Der DFN-Verein entschied sich, auf den OSI X.400 MHS-Standard (Message Handling System) zu setzen und selbst zu entwickeln, statt den in den USA bereits verfügbaren E-Mail-Dienst des CSNET (Computer Science Network) zu übernehmen, was per kostenlosem Lizenzvertrag möglich gewesen wäre. Während in den Vereinigten Staaten der neue CSNET-E-Mail-Dienst wegen seiner großen Bedeutung noch vor der am 1. Januar 1983 vollzogenen Umstellung vom ARPANET aufs Internet eingeführt wurde und sich sehr bewährte, ging man in Deutschland genau umgekehrt vor. Im DFN-Projekt standen E-Mail-Dienste an letzter Stelle, mit gravierenden Auswirkungen für das gesamte Vorhaben. OSI-E-Mail-Implementierungen zogen sich in Deutschland zum Teil bis ins Jahr 1990 hin.

Im DFN-Teilprojekt „Interkonnektion von Netzen“ an der Universität Karlsruhe, welches ein CSNET-Gateway zum Internet als Ziel hatte, war der CSNET-Relay bereits seit 3. August 1984 in Betrieb. Ich war damals der Admin-C, also der administrative Ansprechpartner, und hatte die E-Mail-Adresse zorn@germany. Der DFN-Verein lehnte die im Projektantrag vorgesehene Propagierung dieses Dienstes wegen mangelnder OSI-Konformität jedoch ab und verlängerte die Finanzierung des CSNET-Projekts nicht. Die Universität Karlsruhe führte jedoch den CSNET-Vertrag fort und bot - unabhängig vom DFN-Verein - den CSNET-E-Mail-Dienst weiterhin an, bis zur Umstellung auf volle Internet-Dienste unter dem Namen Xlink in 1989.

Wenn Deutschland unter seinen Regierungen den Beginn des Internetzeitalters „komplett versemmelt“ hat, wie Sie es kürzlich in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung (Link hinter Bezahlschranke) ausdrückten - wurden solche fatalen Fehlsteuerungen nach Ihrer Beobachtung dann später wenigstens vermieden?

„Deutschland hat damals Zeit und Wettbewerbsfähigkeit verloren“

Zorn: Die Folgen der Fehlsteuerungen durch DFN und Ministerialbürokratie in den achtziger Jahren sind nach meiner Einschätzung irreversibel und gigantisch. Sie bestehen in der verlorenen Zeit und in der verlorenen Wettbewerbsfähigkeit in weiten Bereichen der vom Internet durchdrungenen Märkte. Die Verluste dürften bereits heute in Multimilliarden-Größenordnungen liegen. Wie wenig Notiz die deutsche Öffentlichkeit in der wichtigen Anfangsphase überhaupt von der neuen Technologie genommen hat, ist vielleicht auch daran abzulesen, dass das Magazin „Der Spiegel“ überhaupt erstmals im Februar 1994 über das Internet berichtet hat!

Der damals zuständige Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber räumte gegenüber der Süddeutschen Zeitung wohl ein, dass Deutschland zunächst den schnellen Anschluss ans offene Netz der Netze verpasste, wie es sich von den USA aus auf der Basis des TCP/IP-Protokolls rasant entwickelte. Aber Riesenhuber glaubt offenbar nicht an einzelne Fehlentscheidungen, wie Sie sie kritisieren – etwa das umstrittene Setzen auf einen ganz anderen Kommunikationsstandard, die ISO-Norm OSI, als das Konzept aus den USA. Wie wirkt das auf Sie?

Zorn: Seit Beginn der Industrialisierung besteht der Kampf um Märkte doch maßgeblich im Kampf um Standards. Es wurde im vorliegenden Fall in Deutschland eine Art “Krieg” geführt um ISO/OSI-Normen und Internet-Standards. Mit ein wenig Sachkunde wäre relativ schnell feststellbar gewesen, dass Normungsgremien beim siebenschichtigen ISO/OSI-Architektur-Modell auf den oberen Schichten sehr schnell einer kombinatorischen Vielfalt gegenüberstehen, welche mit der bisherigen Methode „Festlegungen am grünen Tisch“ nicht mehr beherrschbar ist. Insofern hätte man zu der traditionellen Normungsmethode zurückkehren können und müssen, Standards erst dann zu verabschieden, wenn sie sich in der praktischen Anwendung als tauglich erwiesen haben. Insofern kann ich Riesenhuber in seiner entsprechenden Einschätzung nicht beipflichten.

Wo Schatten ist, muss es auch Licht geben. Was ist denn eigentlich gut gelaufen bei der Entwicklung des Internets in Deutschland?

Die Universitäten Dortmund und Karlsruhe sorgten für bedeutende Pionierleistungen

Zorn: Licht aus Deutschland mit weltweiter Ausstrahlung ins Internet ging seit 1984 - parallel zum DFN-Projekt - mit den ersten Verbindungen in die USA zunächst vor allem von den Universitäten Dortmund und Karlsruhe aus. Mehrere globale Dienste entwickelten sich von hier aus. An vorderster Stelle wären zu nennen DE-NIC, die Registrierungsstelle für die Top Level Domain .de mit derzeit mehr als 17 Millionen Nutzern, und DE-CIX, der 1995 gegründete Internetknoten, der in Spitzenzeiten einen Datenverkehr von mehr als 12 Terabit pro Sekunde verwaltet - die weltweit führende Plattform zur Verknüpfung von Netzen. Nicht zu vergessen ISOC.DE, ein Verein, der als deutsche Abteilung der weltweiten Internet Society die Verbreitung des Netzes hierzulande fördert und dessen Entwicklung sowohl in technischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht begleitet.

Karlsruhe war zu Anfang so etwas wie Deutschlands Internethauptstadt. Sie haben angedeutet, wie Sie 1989 im Rahmen eines Drittmittel-Projekts begonnen haben, mit Xlink aus der Universität heraus einen Dienst als Internet Service Provider anzubieten. Xlink wurde dann zu einem Start-up-Unternehmen bei Bull, bevor es an KPNQWEST verkauft wurde. Was ist die historische Bedeutung von Xlink?

„Xlink - einer der ersten deutschen ISPs und Keimzelle vieler Startups“

Zorn: Das Kürzel Xlink stand für Extended Link (Lokales Informatik Netz Karlsruhe). Hervorgegangen aus dem 1984 eingeführten CSNET-E-Mail-Dienst konnten wir zum Jahresbeginn 1989 mit Xlink unseren bundesweiten Nutzern die vollen Internetdienste anbieten und ab 1990 bereits kostendeckend. Die ersten Großkunden von Xlink waren BelWü (Baden-Württembergs erweitertes Local Area Network) und BASF. Welche langfristig wirksamen Impulse Xlink setzte, lässt sich gut an zwei Publikationen ablesen. Am 17. September 2004 schrieb das Handelsblatt unter dem Titel "Vom Geburtsort des Internets zur deutschen Web-Hauptstadt - Rund 2500 erfolgreiche IT-Unternehmen haben ihren Sitz in Karlsruhe" in einem historischen Rückblick: "Die Geschichte des aus der Universität ausgegründeten Xlink ist eine der erfolgreichsten Startup-Storys". Und ganz lokalpatriotisch freuten sich z.B. die "ka news" am 17. August 2014 über die '"Internet Hauptstadt" Karlsruhe: Digitaler Vorreiter in Europa' - so lautete die Überschrift. Im Vergleich mit der gesamten Technologieregion Karlsruhe entwickelten sich einzelne Firmen - so auch Xlink - im Rahmen von Zusammenschlüssen und Übernahmen wechselhaft, mit teilweise sehr unterschiedlichem Ergebnis für die jeweiligen Investoren.

Wer oder was hat Sie 2001 nach Potsdam gezogen, ans 1999 gestartete HPI mit seinem einzigartigen, ingenieurwissenschaftlich ausgerichteten Studiengang IT-Systems Engineering?

Zorn: An das Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam hat mich der dort in Forschung und Lehre eingesetzte Ansatz zur Beschreibung komplexer Systemstrukturen gezogen. Die von Gründungsdirektor Siegfried Wendt entwickelte Methodik FMC (Fundamental Modelling Concepts) dient primär der Optimierung der Kommunikation zwischen Entwicklern in Teams mittels anschaulicher graphischer Darstellungen, aber auch der Modellierung und Implementierung von Algorithmen. In dem von mir vertretenen Gebiet der Kommunikationssysteme - von Modems bis zum weltumspannenden Internet - hat man es mit einem riesigen Spektrum von Systemen ganz unterschiedlicher Komplexität zu tun. Deren Anschaulichkeit und zugleich Berechenbarkeit entzog sich bis dato umfassender Methodik. Hier wollte ich in meiner HPI-Zeit einen Beitrag leisten, indem ich den FMC-Werkzeugkasten um die Modellierung des dynamischen Verhaltens durch quantitative Evaluation sowie um hierarchische Strukturen wie das 7-Schichten-Architekturmodell erweiterte.

Als HPI-Wissenschaftler haben Sie sich zum Beispiel auch damit befasst, warum große IT-Projekte in Deutschland vielfach scheitern. Vor fast zehn Jahren nannten Sie die Zahl von 60 bis 70 Prozent aller IT-Projekte, bei denen das nutzbare Ergebnis nicht den ursprünglichen Anforderungen entspreche. Haben die Informatiker, die IT-Systeme entwickeln und implementieren, mittlerweile ihre Lektion gelernt? Landen in Deutschland heute weniger Systeme „in der Tonne“ als früher?

Wenn nicht IT-Systeme in der Tonne landen, sondern Ergebnisse

Zorn: Schauen wir nur einmal auf den bisherigen Verlauf der Corona-Krise zurück. Da könnte man durchaus zu der Einschätzung gelangen, dass nicht die datenverarbeitenden Systeme selbst in der Tonne landen, sondern nur die Ergebnisse…

Sie haben seit den achtziger Jahren eine enge Beziehung zu Wissenschaftlern in der Volksrepublik China. Wie blicken Sie auf die Entwicklung und Nutzung des Internets in China?

Zorn: Die wirtschaftliche und technologische Entwicklung, die China seit Mitte der neunziger Jahre genommen hat, war atemberaubend und womöglich erst der Anfang.

Seit Ihrem fünften Lebensjahr spielen Sie Klavier, sind auch ein guter Konzertpianist. Angenommen, der chinesische Starpianist Lang Lang würde Ihnen aus Anlass Ihres 80. Geburtstags ein Ständchen spielen wollen: Welches Stück würden Sie sich wünschen?

Zorn: Nun, ich selbst würde mich als ganz ordentlichen Amateurpianisten bezeichnen. Als Stück würde ich die „Etincelles“ von Moritz Moszkowski wählen, aber statt von Lang Lang in der unübertroffenen Einspielung meines Freundes Michael Ponti.

Vielen Dank für dieses Gespräch und viel Freude an Ihrem 80. Geburtstag!

Bildergalerie: Prof. Dr. Werner Zorn

* Interview mit Hans-Joachim Allgaier