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"Nicht über Jahre im eigenen Saft schmoren"

„Es bringt uns menschlich einfach weiter, nicht über Jahre im eigenen Saft zu schmoren.“ Das sagt Dr. Clemens Striebing, Wissenschaftler am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) und Speaker auf der diesjährigen empowerHER+ Konferenz am HPI.  

In seiner Forschung am Center for Responsible Research and Innovation beschäftigt er sich unter anderem mit inklusiver Organisationskultur und der Notwendigkeit von Diversität in Innovationsprozessen. 

Denn Entwicklung ohne diversitätssensiblen Ansatz führt zu Innovationen, die nur für Teile der menschlichen Bevölkerung wirklich hilfreich oder gar sicher sind.  

Wir brauchen also mehr Diversität, gerade auch im IT-Bereich, in dem der Frauenanteil noch immer erschreckend gering ist. Auf der diesjährigen empowerHER+ Konferenz (14. und 15. November) ist Clemens Striebing Teil des Panels „What do we need to change?“. Darin widmet er sich der Frage, wie eine diversere Forschungslandschaft ermöglicht und Frauen auf ihrem Weg in die Informatikbranche unterstützt werden können.  

Im HPI-Fotoshooting stellte er sich unseren drei Fragen, die er lediglich mit Gestik und Mimik beantworten durfte. Eindeutig sind seine Antworten dennoch – siehe unten.  

Ein ausführliches Interview gab er uns auch. Darin erklärt er uns unter anderem, von welchem Land sich Deutschland bezüglich Diversität im Tech-Bereich noch etwas abschauen kann. 

Lest hier das komplette Interview:  

Hasso-Plattner-Institut: Gab es eine besondere Erfahrung, die dich motiviert hat, deinen jetzigen Karriereweg einzuschlagen?  

Dr. Clemens Striebing: Die Wissenschaft als Berufsfeld fand ich schon immer spannend. Allerdings hätte ich mich als Kind wohl eher als Dinosaurier-Forscher als bei der Fraunhofer-Gesellschaft gesehen. Auf die Arbeit bei Fraunhofer hatte mich eine Freundin aufmerksam gemacht. Wer Freude an Forschung hat und das Gefühl haben möchte, damit konkrete praktische Probleme zu lösen, dem oder der wird es bei Fraunhofer vielleicht sogar besser als an der Uni gefallen.   

HPI: Wie viel Tech-Nerd steckt in dir?    

Clemens: Ich unterrichte ein Blockseminar zu Bias in Entwicklungsprozessen am Lehrstuhl „Gender und Diversity in der Technik und Produktentwicklung“ von Martina Schraudner an der TU Berlin. In dem Seminar unterrichten wir die Studierenden auch in Critical Making – also beim technischen Herumwerkeln soziale Probleme zu reflektieren und dafür andere Menschen zu sensibilisieren. Für die Arbeit mit den Studierenden im Makerspace haben wir Experten von der Technologiestiftung Berlin. Über das Seminar habe ich aber auch ein paar Grundlagen mitbekommen, sodass ich nicht vollkommen verloren wäre in einem Maker-Space oder mit einem Mikroprozessor. Davon abgesehen bin ich immer sehr neugierig, was neue sozialwissenschaftliche Methoden und Auswertungsmöglichkeiten angeht. Aktuell fasziniert mich bspw. der Gedanke, Akteure und ihre Interessen und Interaktionen mit Sprachlernsystemen wie ChatGPT zu simulieren und dadurch das Verhalten ganzer sozialer Systeme zu simulieren – ob das jetzt ein Klassenzimmer, ein Dorf oder ein Innovationsökosystem ist.   

HPI: Was ist der größte Vorteil von diversen Teams im Entwicklungsbereich? 

Clemens: Dass es uns menschlich weiterbringt, nicht über Jahre im eigenen Saft zu schmoren. Ich glaube nicht an einen sogenannten Business Case von Diversität, also dass vielfältige Teams unter allen Umständen immer besser performen. Die aktuelle Forschung hierzu zeigt, dass die Effekte von Vielfalt sehr stark abhängen vom Glauben aller Teammitglieder an die positiven Effekte von Vielfalt, den jeweiligen Aufgaben, die ein Team erfüllen muss und von den jeweiligen Kontextbedingungen, welche die Arbeit eines Teams prägen. Allen Menschen im Verhältnis zu ihren spezifischen Herausforderungen und Bedingungen möglichst optimale Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, sollte ein zentraler menschlicher Wert sein. Wer erst von einem Business Case für Diversität überzeugt werden muss, sollte seine eigene Einstellung hinterfragen.

HPI: Was ist die größte Gefahr von Innovation ohne Diversität? 

Clemens: Ich glaube auch nicht, dass vielfältige Teams automatisch zu diversitätssensibleren Innovationen führen. Ausschlaggebend ist aus meiner Sicht die Schulung und Befähigung für ein diversitätssensibles Forschen und Entwickeln. Beispiele für episch fehlgeschlagene, nicht diversitätssensible Innovationen gibt es mittlerweile ja sehr viele: vom lange Zeit nicht vorhandenen weiblichen Crash-Test-Dummy, über fehlende Daten zur Wirkung von Medikamenten bei marginalisierten Gruppen bis hin zu einem aktuellen Beispiel, dass ChatGPT unterschwellig die Sprecher:innen bestimmter Dialekte diskriminiert. Forscherinnen und Innovatoren arbeiten so wie wir alle bei ihrer Arbeit gern mit Heuristiken. Das sind einfache Entscheidungsregeln, die in vielen Fällen sehr effektiv sind. Typische Heuristiken sind zum Beispiel die Ich-Methode – also wie müsste das Produkt aussehen, damit es mir gefällt – oder das Bilden von Personas. Bei den Personas wird dann oft zugespitzt und stereotypisiert. Am Ende kommt dann die pinke Säge für eine weibliche Zielgruppe dabei heraus. Unser Ziel sollte dabei nicht sein, diese Heuristiken zu unterbinden. Denn obwohl sie leicht Bias mit sich bringen können, bewähren sie sich oft im Alltag und sind in der Praxis oft unverzichtbar. Stattdessen sollten wir weitere Heuristiken ergänzen, wie man leicht und pragmatisch diversitätssensibel innovieren kann.   

HPI: Was bedeutet Gender Bias? In welchen Alltagssituationen zeigt sich das?  

Clemens: Ein paar Beispiele habe ich ja schon genannt. Spannend finde ich die Erkenntnis, dass ChatGPT mich als Nutzer klassifiziert, um mir dann zielgerichtetere Empfehlungen machen zu können. Wenn mich ChatGPT aufgrund dessen wie oder was ich rede als weniger gebildet einstuft, als ich es faktisch bin, dann wird mir die KI zum Beispiel als Job-Empfehlungen nicht die Stellen ausgeben, die mich vielleicht mehr interessieren würde. Andere alltagsnahe Beispiele sind der Öffentliche Personennahverkehr. Die Verkehrssysteme sind klassischerweise stark für längere Pendlerwege zu bestimmten Stoßzeiten optimiert und sehen seltener die kleinteiligeren Fahrten von der Kita zum Supermarkt zum Pflegeheim vor, die mit Care-Arbeit verbunden sind. 

HPI: In welchen Momenten merkst du, dass du den richtigen Job gewählt hast? 

Clemens: Einerseits begeistert mich die Arbeit mit sozialen Daten. Wenn wir bspw. neue Befragungsdaten erhalten und wir da interessante Muster feststellen können, ist das immer ein tolles Gefühl. Andererseits macht mir schon auch die Wissenschaftskommunikation viel Freude. Also unsere Erkenntnisse so aufzubereiten, dass auch andere Menschen sich dafür interessieren. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Ab und an bekommt man positives Feedback und das ist dann auch immer schön. Im Bundeskriminalamt beforschen wir zum Beispiel seit mittlerweile zwei Jahren die Werte der Beschäftigten und haben dabei das Gefühl, dass unsere Ergebnisse auf anhaltend großes Interesse bei Beschäftigten und Führungskräften stoßen. Das vermittelt uns, dass wir gute Arbeit leisten.   

HPI: Darf man sich als Mann im Diversity Bereich auch mal doofe Sprüche anhören? Wie reagierst du darauf? 

Clemens: Ich erinnere mich da wirklich nur an ein oder zwei Erfahrungen, aber eigentlich passiert das eher nicht. Ich denke, als Frau im Diversity-Bereich muss man sich weitaus mehr doofe Sprüche anhören. Als Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragte braucht man ein weitaus dickeres Fell. 

HPI: Ganz plump gefragt: Warum ist Female Empowerment auch ‚Männersache‘? 

Clemens: Die aktuelle DE&I-Forschung (Diversity, Equity und Inclusion) zeigt, dass Diversity-Trainings nicht effektiv sind, wenn sie vor allem eine rechtliche Drohkulisse ausbreiten. Der Verweis auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz motiviert Führungskräfte eher seltener, sich zum Verbündeten der Gleichstellung zu machen. Stattdessen sollten Führungskräfte an ihre Verantwortung für gute Teamarbeit erinnert werden und gute Teams zeichnen sich durch ein Klima von partizipativer Sicherheit aus. Also dadurch, dass alle Teammitgliedern das Gefühl haben, in ihrem Team kann alles gesagt und konstruktiv diskutiert werden. Das hat das berühmte Aristoteles-Projekt von Google eindrucksvoll gezeigt. Damit will ich sagen: In einem guten Team schaffen sich alle Teammitglieder gegenseitig ein gutes Arbeitsklima. 

HPI: Wie sollte man die Debatte um Frauen im Tech-Bereich führen, ohne die Frauen auf ihr Geschlecht zu reduzieren? 

Clemens: Indem man den Blick auf die Design-Aspekte der Arbeit im Tech-Bereich wirft, also auf die Herausforderungen der Arbeit im Tech-Bereich und unter welchen Umständen es schwerfällt, diese Herausforderungen zu bewältigen. Ein Beispiel: In der IT haben wir in westlichen Gesellschaften einen niedrigen Frauenanteil. Das ist in einigen südostasiatischen Staaten anders. Dort sind IT-Berufe für Frauen sehr attraktiv, da die Arbeitszeiten flexibel sind, es keine körperlich schwere Arbeit ist und die tendenziell besseren Bildungsabschlüsse von Frauen dafür wichtig sind. Im Gegensatz dazu sind diese positiven Seiten von IT-Jobs bei uns mitunter nicht üblich. Oft handelt es sich um hochkompetitive Stellen, bei denen Überstunden an der Tagesordnung sind. Das Problem sind nicht die Frauen, sondern das Arbeits-Design. 

HPI: Was ist die größte Hürde auf dem Weg zu einer diversen Forschungslandschaft? 

Clemens: Ich denke die sozialisationsbedingte Berufswahl. Nach dem Schulabschluss müssen die ehemaligen Schülerinnen und Schüler für sie sehr wichtige Entscheidungen unter höchster Unsicherheit treffen. Mit hoher Unsicherheit meine ich, dass die wenigsten von uns eine Vorstellung von den vielfältigen Berufsbildern in der Welt haben und was die Entscheidung für den jeweiligen Beruf bedeutet. In so einer Situation entscheiden sich die meisten entweder für die Imitation, also für einen Beruf, den ein Vorbild aus ihrem Umfeld ausübt, oder sie besinnen sich auf das, was ihnen bisher von ihrem Umfeld als ihre Stärken gespiegelt wurde. Im Ergebnis solcher Prozesse haben wir zum Beispiel jedes Jahr sehr viele Frauen, die sich für ein Mathestudium entscheiden und danach in das Lehramt anstatt in die Industrie oder an die Unis gehen. 

HPI: Von welchem Land können wir uns bezüglich der Diversität im Tech-Bereich etwas abgucken?  

Clemens: Für mich persönlich ist Österreich ein Rätsel. So wie Deutschland handelt es sich politisch-soziologisch betrachtet um einen konservativen Wohlfahrtsstaat. Gleichzeitig sind in Österreich in den letzten Jahrzehnten viel mehr Frauen in den MINT-Bereich gegangen. Ein paar Kolleginnen und Kollegen hatten dazu vor ein paar Jahren einmal eine Studie verfasst. Ein wichtiger Faktor ist hier sicher, dass in Österreich in den letzten Jahrzehnten der Anteil hochgebildeter Frauen auf dem Arbeitsmarkt deutlicher als in anderen Staaten angestiegen ist und diese Frauen dann eben auch im Tech-Bereich unterkommen. Daneben muss man aber auch einfach anerkennen, dass die Gleichstellungsgesetzgebung im traditionell ja eher katholisch geprägten Österreich auf Bundesebene Jahrzehnte vor der deutschen umgesetzt wurde. 

 HPI: Warum sind Konferenzen wie die empowerHER+ ein Schritt in die richtige Richtung? 

Clemens: Ich habe immer den Eindruck, dass ihr eine tolle Kommunikationsarbeit leistet und dadurch öffentliches Bewusstsein stärkt. Bei Eurer Konferenz treffen außerdem Laien und Expertinnen und Experten zu DE&I und Tech zusammen und ich denke, so bekommen die Berufseinsteigerinnen und -einsteiger ein Gefühl dafür, was für ein Arbeitsklima und welche Herausforderungen sie in der Tech-Branche erwarten können, aber auch dafür, dass sie nicht allein damit sind und es viele Unternehmen gibt, die sich proaktiv für ein inklusives Arbeitsklima einsetzen.   

HPI: Dein Lesetipp zum Thema? 

Clemens: Aus meiner Sicht das beste Buch der letzten Jahre zu DE&I in der Wirtschaft: Dobbin und Kalev mit Getting to Diversity. Die beiden Wissenschaftler:innen haben über Jahre aufwändig recherchiert und versuchen die Effekte einzelner Diversity-Maßnahmen konkret zu berechnen. Außerdem erläutern sie in ihrem Buch die Wirksamkeitsfaktoren für die Maßnahmen. 

Vielen Dank für das Interview! 

Und noch ein Hörtipp zum Schluss: Seit kurzem betreibt Clemens zusammen mit einem Kollegen den Podcast „Culture Analytics“ rund um die Wissenschaft der Organisationskultur. Jetzt reinhören: https://open.spotify.com/show/55Bi3EDqEc0q7Yjic13pPo 

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Letzte Änderung: 04.09.2024