Dürfen wir vorstellen? Unser neuer Tenure-Track-Professor Niclas Böhmer.
Seine Stationen: Oxford – Harvard – HPI. Seit September leitet er bei uns in Potsdam das Fachgebiet „Algorithmic Decision Making and Society.“ In seiner Forschung geht es darum, computergestützte Partizipations- und Zuteilungsprozesse transparenter und fairer zu gestalten. Mögliches Einsatzgebiet: Politische Partizipationsprozesse.
Niclas Böhmer ist ein Perfektionist, sagt er. Was manchmal dazu führt, dass er sehr schnell spricht. Einfach um möglichst alles Essentielle zu erwähnen. Er lacht, während er uns das erzählt.
Dass er mit seinen 26 Jahren einer der jüngsten Professoren Deutschlands ist – ein Thema, auf das er gut verzichten könnte. Und trotzdem haben wir es im Interview angesprochen. Weil es beeindruckend ist. Und weil Niclas Böhmer trotz seiner sympathischen Abneigung für Selbstinszenierung eben sehr inspirierend ist. So konnte er durch seine Arbeit mit einer indischen NGO Algorithmen entwickeln, welche Hilfsgüter und Plätze in Hilfsprogrammen viel effizienter verteilt. Er betont: das war er nicht allein. Das war eine Gruppenarbeit, das Lob gilt in erster Linie den anderen Beteiligten. Niclas Böhmer ist fernab eines Einzelkämpfers, er arbeitet gern mit anderen zusammen. Warum er genau das und weitere Dinge allen jungen Menschen in der Forschung raten würde?
Hier das vollständige Gespräch zum Nachlesen:
Q: Wie würden Sie einem komplett fachfremden Menschen erklären, woran Sie aktuell forschen?
Böhmer: Wenn Informatiker von Algorithmen sprechen, geht es oft um Methoden, die Entscheidungen auf der Basis von bereitgestellten Daten treffen. Manchmal hat eine solche Entscheidung nicht nur direkte Auswirkungen auf einen Menschen, sondern sie betrifft gleich eine ganze Gruppe – zum Beispiel, wenn Schul- oder Wahlbezirke eingeteilt werden. In meiner Forschung geht es darum Algorithmen für solche Situationen zu entwickeln, die transparent Entscheidungen treffen, welche die Interessen von allen gerecht widerspiegeln.
Q: Welchen Mehrwert – gerne auch im Alltag – wird das für uns Menschen haben?
Böhmer: Meine Forschung stellt sicher, dass computergestützte Partizipations- und Zuteilungsprozesse transparenter und fairer ablaufen. Ein Einsatzgebiet ist die zentrale Verteilung von Studienplätzen oder Uniprojekten, bei denen Menschen ihre Präferenzen an eine zentrale Vergabestelle übermitteln. Ein weiteres Beispiel sind politische Partizipationsprozesse, wie etwa Abstimmungen in Städten darüber, welche Projekte von einem Teil des Budgets finanziert werden sollen. Solche Prozesse wirken auf den ersten Blick vielleicht einfach, sind aber bei genauerem Hinsehen ziemlich komplex. Die aktuell genutzten Verfahren haben oft Nachteile, wie etwa die Tatsache, dass es manchmal taktisch klüger ist, nicht seine wirklichen Präferenzen anzugeben, oder dass Minderheiten kaum Einfluss auf die Entscheidung haben.
Ein weiterer Anwendungsbereich meiner Forschung ist die effiziente und gerechte Verteilung knapper Ressourcen. Hier kann meine Arbeit zum Beispiel dazu beitragen, begrenzte medizinische Geräte in Krankenhäusern oder Hilfsgüter besser zu verteilen.
Q: Sie kommen von einer der Elite-Unis in den USA – welche Skills nehmen Sie aus dieser Zeit mit?
Böhmer: In den USA habe ich gelernt, strategischer zu arbeiten und stärker über den „roten Faden“ in meiner Forschung nachzudenken. Während meiner Promotion habe ich eher „drauflos“ geforscht und Projekte in Angriff genommen, weil sie interessant wirkten, mich herausforderten und grob zu meinem Profil passten. In Harvard ging es da viel strategischer zu: Was trägt das Projekt zu den Langzeitzielen der Gruppe bei? Festigt es unsere Vorreiterstellung in einem konkreten Bereich? Ist es gut für die Außenwirkung und kann man damit Interesse bei Geldgebern wecken? Ein weiteres übergeordnetes Ziel ist es, mit seiner Forschung eine Geschichte zu erzählen und den Eindruck zu vermitteln, dass alle Projekte wie aus einem Guss sind und langfristig geplant wurden. Hierbei gilt an amerikanischen Unis: „Früh übt sich“; schon bei der Bewerbung für ein Bachelorstudium wird erwartet, dass man ein überzeugendes Narrativ für das eigene Leben und die angestrebten Ziele vorweisen kann. Obwohl ich diesen Ansatz kritisch betrachte, glaube ich, dass man viel davon lernen kann. Darüber hinaus bin ich durch meine Zeit in Harvard sicherlich auch ambitionierter in meinen Zielen geworden. Wenn alle um einen herum große Projekte mit ambitionierten Langzeitvisionen verfolgen, färbt das einfach ab.
Q: Was haben Sie in Harvard immer gesucht, was Sie jetzt am HPI gefunden haben?
Böhmer: Da gibt es einiges… Am HPI habe ich die Möglichkeit Grundlagenforschung zu betreiben und meine Forschungsagenda gut und gründlich zu verfolgen. In Harvard war das Tempo oft extrem hoch, was dazu führte, dass Projekte manchmal darunter gelitten haben. Zudem ist der Druck, an Hypethemen zu arbeiten, durch die Finanzierungsstrukturen sehr groß – selbst wenn bereits viele qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an denselben Themen forschen. Durch meine Zeit in den USA habe ich die Forschungsfreiheit in Deutschland wirklich zu schätzen gelernt.
Was mir am HPI außerdem besonders gefällt, ist die Größe und familiäre Atmosphäre. Hier gibt es viele Mitgestaltungsmöglichkeiten und die Dinge sind ein bisschen mehr im Fluss. Harvard wirkte aufgrund seiner Größe und Bedeutung oft anonym und starr und der bürokratische Aufwand in jedem Bereich war wirklich enorm – davon war ich zu Beginn echt geschockt.
Q: Sie haben in Südengland und in den USA geforscht – jetzt wieder in Deutschland. Warum sind diese unterschiedlichen Perspektiven für Ihre Arbeit so wichtig?
Böhmer: Ich würde hier zwischen zwei Aspekten unterscheiden: Allgemein finde ich es als Forscher wichtig, internationale Erfahrungen zu sammeln und weltweit Kontakte zu knüpfen, um mich in meiner Arbeit nicht zu isolieren. Forschungsfortschritt und auch Gemeinschaft machen nur selten an Grenzen halt, auch wenn es regionale Unterschiede in den Themen und Herangehensweisen gibt.
Für mein spezielles Arbeitsfeld sind kulturelle Perspektivwechsel besonders wichtig. Werte, Bedürfnisse und die Akzeptanz von Technik variieren stark zwischen und innerhalb von Ländern, während Algorithmen global eingesetzt werden. Meine wechselnden Arbeits- und Lebensumgebungen haben mir deutlich gemacht, wie groß und folgenschwer diese Unterschiede sind. Dieses Bewusstsein motiviert mich, Algorithmen zu entwickeln, die sich an die spezifischen Rahmenbedingungen des lokalen Kontextes anpassen lassen. Außerdem strebe ich durch meine theoretische Herangehensweise danach, Algorithmen zu finden, bei denen die Benachteiligung von Gruppen oder Einzelnen in jeder Situation garantiert ausgeschlossen ist.
Q: Inwiefern ist das, was Sie tun mehr als „nur“ Arbeit?
Böhmer: Wenn ich die Forschung und Lehre nur als Arbeit sehen würde, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr an der Uni. Für mich ist es eine Mischung aus Leidenschaft, Selbstverwirklichung, dem Gefühl Teil einer Gemeinschaft und von etwas Größerem zu sein und manchmal tatsächlich auch nerviger Arbeit. In jedem Fall macht es mir sehr viel Spaß und ich sehe meinen „Job“ als großes Privileg. Die Kehrseite der Medaille ist, dass meine „Arbeitszeiten“ oft mit dem Rest der Woche verschmelzen.
Q: Gibt es eine Person, der Sie gerne Danke sagen würden, weil diese Sie immer auf ihrem Weg unterstützt hat? Inwiefern?
Böhmer: Meinen Eltern, die mich immer tatkräftig unterstützt haben. Sie haben mir unglaublich viel ermöglicht und mir bei all meinen Projekten, Entscheidungen und Ideen Rückendeckung gegeben, auch wenn sie manchmal schon etwas irritiert waren – wie zum Beispiel, als ich in der 11. Klasse mein Zimmer durch den ganztägigen Betrieb meines Laptops für 5 Tage in eine Sauna verwandelt habe. Gleichzeitig haben sie mir stets die Freiheit gegeben, meinen eigenen Weg zu finden und zu gehen – wäre es nach meinen Eltern gegangen, hätte ich VWL oder Politikwissenschaften studiert, aber sicherlich nicht Informatik.
Q: Oder gibt es einen Moment, indem Sie gemerkt haben: mit IT kann ich etwas bewegen?!
Böhmer: Eine der prägendsten Erfahrungen für mich war die Zusammenarbeit mit ARMMAN, einer indischen NGO, die sich für die Gesundheitsversorgung von Schwangeren und Kleinkindern einsetzt. In meinem letzten Jahr habe ich eng mit ihnen zusammengearbeitet, um Algorithmen zu entwickeln, die dabei helfen, Hilfsgüter und Plätze in Hilfsprogrammen effizienter an die Menschen zu verteilen, die am meisten davon profitieren. Durch die Optimierung ihres Verteilungsalgorithmus konnten sie den Impact eines ihrer Programme um 30 % erhöhen – und das nahezu ohne zusätzliche Kosten – da die erforderlichen Daten sowieso gesammelt wurden. Die Offenheit der NGO gegenüber Technik in solch wichtigen sozialen Projekten hat mich sehr inspiriert, mir aber auch nochmal deutlich gemacht, welche Verantwortung wir bei der Entwicklung von Algorithmen tragen.
Sie gehören zu den jüngsten Professoren Deutschlands. Welche Fragen dürfen Sie sich immer wieder anhören? Und wie reagieren Sie darauf?
Böhmer: Fragen gibt es überraschend wenige. Die meisten sind einfach kurz überrascht oder halten es für ein Missverständnis. Wenn jemand fragt, geht es oft darum, ob es nicht komisch ist, dass Studierende, die ich betreue, älter sind als ich. Ich habe das aber nie als Problem gesehen. Die Studierenden auch nicht – zumindest soweit ich weiß. Im Gegenteil: Ich habe eher den Eindruck, dass Studierende dadurch entspannter und ehrlicher sind, was sich bisher immer als positiv erwiesen hat.
Q: Welche 3 Tipps würden Sie anderen jungen Menschen geben, deren Traum es ist, genau Ihren Weg einzuschlagen?
- Plant voraus, aber bleibt offen für sich spontan ergebende Möglichkeiten. Sowohl die Gestaltung eueres Karrierewegs als auch euer Forschungsschwerpunkt erfordern Planung und Weitsicht. Lasst euch dadurch aber nicht davon abhalten spontan zu sein und auch mal links und rechts zu schauen – spannende Forschung entsteht oft im Moment.
- Traut euch selbst etwas zu, denkt groß und beweist Eigeninitiative. Es gibt unzählige Möglichkeiten, interessante Forschung zu betreiben und an tollen Orten mit inspirierenden Menschen zu arbeiten. Es liegt an euch, diese Chancen zu suchen und zu ergreifen. Statt lange darüber nachzudenken, ob etwas funktionieren wird, probiert es einfach aus.
- Freundet euch mit Leuten mit ähnlichen Interessen an und werdet keine Einzelkämpfer. Gemeinsam zu arbeiten bringt Spaß und Leichtigkeit in die Forschung und macht euch obendrein oft produktiver. Außerdem ist es ein tolles Gefühl, wenn sich Konferenzen irgendwann wie Familientreffen anfühlen.
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Letzte Änderung: 04.09.2024