Für mehr Digitalisierung und Innovation in der deutschen Verwaltung
Nach jahrelanger Tätigkeit als Head of Service Design beim Government Digital Service (GDS) der britischen Regierung, gehört Martin Jordan seit Mai 2022 als Head of Design zum Team des deutschen DigitalService. In unserem Alumni-Interview spricht er über seine neue Aufgabe und erzählt, wie er und sein Team die Bundesverwaltung digitaler und innovativer machen.
Der DigitalService der Bundesregierung entwickelt digitale Anwendungen, die die Bedürfnisse von Bürger:innen, Wirtschaft und Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Was ist deine Aufgabe und dein Ziel in deiner neuen Position als Head of Design?
In der deutschen Verwaltung ist die Rolle des Head of Design noch eine ganz neue. Während es in der britischen Verwaltung mittlerweile Dutzende Stellen dieser Art gibt, ist es hier die allererste. Daher ist die Rolle nur begrenzt definiert und ich kann sie gestalten.
Ich sehe meine Aufgabe in drei Hauptfeldern: ich führe und unterstütze die mittlerweile 13 Designer:innen beim DigitalService des Bundes in ihrer Arbeit, ich entwickle intern die Designdisziplin weiter und ich helfe der deutschen Verwaltung, nutzerzentriertes Design besser zu verstehen und einzusetzen. Praktisch heißt das zum Beispiel unsere Designprozesse noch inklusiver zu machen. Da Dienstleistungen der Verwaltung für alle Menschen im Land funktionieren müssen – und nicht nur für eine eng definierte Zielgruppe – hat Barrierefreiheit einen sehr hohen Stellenwert. Im Entwicklungsprozess von neuen digitalen Verwaltungsleistungen müssen wir Menschen mit allen Fähigkeiten und Kenntnissen berücksichtigen und involvieren.
Darüber hinaus sehe ich meine Rolle als Vermittler und Verknüpfer – sowohl national als auch international. In den verschiedenen Teilen der deutschen Verwaltung und des öffentlichen Sektors gibt es ungefähr 50 Designer:innen. Nicht wenige arbeiten allein oder in kleinen Teams und lösen ähnliche Probleme wie wir. Sie gilt es zu vernetzen und einen regelmäßigen Austausch anzuregen.
International habe ich in den letzten fünf Jahren geholfen, fast 3.000 Designerinnen und designinteressierte Verwaltungsmitarbeiter:innen aus über 70 Ländern zusammenzubringen. Gemeinsam mit einigen internationalen Kolleg:innen organisieren wir monatliche Vorträge und Diskussionen, veranstalten international Konferenzen und haben eine digitale Plattform für den ständigen Austausch etabliert. Im Unterschied zur Privatwirtschaft ist der Austausch zwischen Ländern möglich und erwünscht. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, wenn es im Ausland bereits gute Ansätze gibt, zum Beispiel um digital die Identität von Bürger:innen festzustellen. Das gibt uns Raum und Zeit, Herausforderungen anzugehen, die länder- und kontextspezifisch sind – und davon gibt es in Deutschland genügend.
Meine Aufgabe beim DigitalService sehe ich erst als erfüllt an, wenn Menschen im Land das Gefühl haben, dass Verwaltung digital für sie zugänglich geworden ist und sie Dienste schnell und bequem benutzen können – wann und wo sie es wollen.
Wie kann Design Thinking dabei helfen Verwaltungsprozesse und Dienstleistungen zu modernisieren und welche Rolle spielen Design-Thinking-Methoden in deiner Arbeit?
Wir sprechen in unserer Arbeit nicht von Design Thinking, jedoch sind unsere Ansätze, Prozesse und Methoden sehr, sehr ähnlich. Einige meiner Kolleg:innen sind wie ich an der HPI D-School gewesen und waren mit unseren Prozessen sofort vertraut.
Unser Arbeitsfeld ist Software-Entwicklung und das Gestalten von Verwaltungsdiensten. Dabei starten wir mit einer sogenannten Discovery-Phase, in der wir zunächst das Themenfeld – zum Beispiel Steuererklärungen – eingrenzen und untersuchen. Wir sprechen mit Personen der Zielgruppe, beobachten sie dabei, wie sie eine Aufgabe bisher angehen und beschreiben zusammenfassend ihre Bedürfnisse und Ziele.
Erst wenn wir das Problem von Grund auf durchdrungen haben, widmen wir uns dem Lösungsraum. Das ist für die Verwaltung neu. Zuvor wurde ausgiebig an dicken Lastenheften gearbeitet. Diese enthielten viele theoretische Annahmen. Wir gehen schrittweise, iterativ und datengetrieben vor. Wir testen unsere Entwürfe in allen Phasen der Entwicklung regelmäßig mit der späteren Zielgruppe. So stellen wir sicher, dass wir auf dem richtigen Pfad sind und unsere Hypothesen nicht zu lange ungetestet bleiben.
In unseren Discovery- und Alpha-Phasen durchlaufen wir faktisch alle Stufen des Design-Thinking-Prozesses. Doch da hört unsere Arbeit nicht auf. Unsere multidisziplinären Teams entwickeln skalierbare und sichere digitale Verwaltungsdienste, die fortwährend verbessert, erweitert und dabei auch getestet werden.
Alle bekannten Prinzipien des Design Thinking finden praktisch Anwendung in unserer Arbeit. Wir visualisieren viel, testen schnell, nehmen die Perspektive der Nutzenden ein.
An welchen Projekten arbeitet dein Team zurzeit? Welche Herausforderungen, aber auch Chancen für eine innovative öffentliche Verwaltung stellen sich dir dabei?
Wir arbeiten an einer Reihe von digitalen Verwaltungsleistungen. Diese entwickeln wir für und mit diversen Bundesministerien und -behörden. Anfang Juli ging ein neuer Service zum Einreichen der Grundsteuererklärung an den Start. Zuvor stellten wir einen Steuerlotsen für Renter:innen und Pensionär:innen bereit. In beiden Projekten machen wir das Thema Steuern für Menschen leichter verständlich und führen sie Schritt für Schritt durch den Prozess eine Erklärung abzugeben. Wir haben viel User Research vor und während der Entwicklung der Dienste durchgeführt sowie regelmäßig die Zwischenstände mit Nutzenden getestet.
Designer:innen, Produktmanager:innen und Software-Entwickler:innen sind alle nah dran an den Nutzenden. Sie sind involviert in der anfänglichen Discovery-Phase, sie machen Notizen in regelmäßigen Usability-Tests, sie sehen und reagieren auf eingehende Supportanfragen.
Die größte Herausforderung ist, nicht nur Verwaltungsleistungen mit besseren Bedienoberflächen auszustatten, sondern ressortübergreifend Services grundlegend zu transformieren. Das heißt, interne Prozesse zu überarbeiten, Gesetze auf ihren Interpretationsspielraum zu überprüfen und maßgeblich Sprache verständlicher für die Nutzenden zu machen.
Im Vergleich zu privatwirtschaftlichen Diensten und auch Verwaltungsleistungen in anderen Ländern ist der Aufholbedarf spürbar. Zugleich sehen wir gerade einen Schub in der deutschen Verwaltung, wie es ihn in den vergangenen 20 Jahren nicht gab.
Im Jahr 2010 hast du den Basic Track und Advanced Track an der HPI D-School absolviert. Wie ist deine Erinnerung an die Zeit und welchen Einfluss hat die dort gelebte Lern- und Arbeitskultur auf deine Herangehensweise an neue Projekte und Problemstellungen?
Mein Jahr an der D-School hat meinen Blick auf Design und meinen Karrierepfad einschneidend verändert. Ich hatte zuvor an zwei anderen Hochschulen Industrie-, Interface- und Kommunikationsdesign studiert. Nutzerzentrierte Prozesse und Methoden erhielten dort vergleichsweise zu wenig Beachtung. Deshalb ordnete die Zeit an der D-School mein Verständnis von Design neu.
Danach wählte ich stets Organisationen als Arbeitgeber, die einen menschenzentrierten, iterativen und evidenzorientierten Designansatz verfolgten. In allen folgenden Arbeitskontexten – zunächst bei Nokias Kartographie- und Navigationseinheit HERE in Berlin und später beim britischen Government Digital Service in London – gab es eine etablierte User-Research-Praxis mit einer Bandbreite an Methoden und einer regelmäßigen Einbindung von Nutzer:innen. Sowohl zum Verstehen des eigentlich Problems als auch beim Testen von potenziellen Lösungsansätzen. Das frühe, auf qualitativen und quantitativen Daten basierende Formulieren von Hypothesen und deren schnelle Validierung durch Prototypen, ist nicht für jede Organisationen die natürliche Herangehensweise. Über die letzten Jahre bekamen aber auch die Führungsebenen von internationalen Verwaltungseinheiten davon Wind und ließen sich auf diesen Ansatz ein. Für mich gibt es keine Alternative dazu.
Zwei weitere nützliche Qualitäten, die ich aus meiner Zeit an der D-School mitgenommen habe, sind zum einen Moderations- und Prozessbegleitungsfähigkeiten sowie zum anderen die Bedeutung von regelmäßigem Präsentieren und dem Teilen von Zwischenergebnissen. Beide Aspekte hatte ich erst an der D-School für mich entdeckt und seitdem fortwährend ausgebaut, sodass sie heute in meinem Arbeitsumfeld unvermeidlich und von großer Wichtigkeit sind.
Die D-School hat maßgeblich beeinflusst, wie und in welchen Organisationen ich arbeitete und arbeite. Auch wenn diese nicht exakt das Vokabular von Design Thinking verwenden, die eingesetzten Prinzipien und Praktiken von nutzerzentriertem Design sind letztlich die gleichen.