Hasso-Plattner-Institut25 Jahre HPI
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06.09.2022

"openHPI dient der Demokratisierung des Wissens"

Interview mit HPI-Direktor Prof. Christoph Meinel

Am 3. September 2012 startete der erste Onlinekurs auf der Lernplattform openHPI des Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts (HPI). Anlässlich ihres zehnjährigen Jubiläums spricht HPI-Direktor Prof. Christoph Meinel im Interview über eine neue Ära der Wissensvermittlung, die damals begann.

Prof. Christoph Meinel beim openHPI-Forum 2021
Prof. Christoph Meinel beim openHPI-Forum 2021

Meinel, der auch das HPI-Fachgebiet Internet-Technologien und -Systeme leitet, gehört zu den deutschen Tele-Teaching-Pionieren und erfahrensten E-Learning-Experten. Schon vor zwanzig Jahren, am 29. Oktober 2002, initiierte er - damals noch von der Universität Trier aus - eine ungewöhnliche Form des globalen E-Learnings. Seine vor deutschen Informatik-Studenten auf Englisch gehaltene Vorlesung „Schwachstellen und Angriffspunkte im Internet“ ließ er übers World Wide Web live in einen Hörsaal der Technischen Universität Peking übertragen. Für diese „Internet Bridge“ (so der Projektname) erlaubte es die Volksrepublik China erstmals ihren Studenten, live an Online-Vorlesungen einer ausländischen Universität teilzunehmen. Nach wie vor fliegt Meinel einmal im Jahr in die chinesische Hauptstadt, um dort die Teilnehmenden an der mittlerweile per Streaming übermittelten Vorlesung mündlich zu prüfen und ihnen bei Erfolg ein Zertifikat auszuhändigen.

Zusammen mit HPI-Stifter Prof. Hasso Plattner haben Sie als Institutsdirektor vor gut zehn Jahren den Anstoß dafür gegeben, dass openHPI eine Pionieraufgabe in Europa übernimmt und Massive Open Online Courses, abgekürzt MOOCs, anbietet. Was war der Beweggrund dafür?

Prof. Christoph Meinel: Dazu müssen wir genauer auf das Jahr 2012 zurückblicken. Es war ein besonderes in der Geschichte der Bildung und des E-Learnings. Im Februar erschien, wie jedes Jahr, der Horizon Report, eine der weltweit wichtigsten Trendstudien zum E-Learning. Darin tauchte der Begriff MOOC erstaunlicherweise noch gar nicht auf. Aber bereits im November 2012 deklarierte die New York Times das Jahr 2012 zum „Year of the MOOC“. Denn seit dem Herbst 2011 hatten die Stanford University und einige andere US-Eliteuniversitäten für Furore gesorgt mit solchen kostenlosen offenen Onlinekursen für tausende und zehntausende von Interessierten. Von den Vorteilen der MOOCs war unser Stifter Hasso Plattner, der ja 2005 für ein Hasso Plattner Institute of Design an der Stanford University gesorgt hatte, Ende 2011, Anfang 2012 sofort überzeugt. Er wollte, dass auch wir vom Potsdamer Hasso-Plattner-Institut, dem HPI, die aus den USA kommende MOOC-Welle nutzen und etwas derart Innovatives anbieten.

MOOCs bringen das Soziale ins E-Learning

Erinnern Sie sich noch daran, wann Sie persönlich das erste Mal in Kontakt mit MOOCs gekommen waren? Wo und wie war das?

Meinel: Schon seit 1991, dem Anfang meines Berufslebens als Professor – das World Wide Web war gerade erfunden worden –, habe ich mich dafür interessiert, wie das Internet und die neuen Digitaltechnologien zur Unterstützung der Lehre und zur Beförderung des Lernens genutzt werden können. Wir haben ein mobiles Aufnahmesystem tele-TASK für Vorlesungen und Vorträge entwickelt, mit dem diese sehr bequem aufgezeichnet und über das Internet gestreamt werden können. Über unser tele-TASK-Portal konnten wir so Lehrveranstaltungen über das Internet zugänglich machen und in großem Umfang E-Learning-Material erstellen und kostenfrei anbieten. Bei allen gepriesenen Vorzügen des E-Learnings schien das aber den eigentlichen Adressaten keinen besonders großen Spaß zu machen. Als wir dann auf die E-Learning-Aktivitäten und MOOCs von Sebastian Thrun und anderen aufmerksam wurden, fiel es uns wie Schuppen von den Augen: Sich ganz allein vor dem Bildschirm mit E-Learning-Material aus dem Internet auseinanderzusetzen, war etwas sehr Einsames, aber Lernen ist ja etwas sehr Soziales. Und genau da setzte die Innovation der MOOCs an.

Sie sprechen den deutschen Wissenschaftler Sebastian Thrun an. Welche Rolle hat er für die Einführung von MOOCs gespielt?

Meinel: Sebastian Thrun ist ein aus Solingen stammender Forscher, der nach Informatikstudium in Hildesheim und Promotion in Bonn in die USA ging. Als er Professor an der Stanford-Universität im kalifornischen Silicon Valley war, begann er Ende 2011, seine Lehrveranstaltungen zur Einführung in die Künstliche Intelligenz in Form innovativer, offener Online-Kurse anzubieten – mit kurzen Lehr-Videos und jeweils anschließenden Multiple Choice-Tests. An diesen ersten Stanford-MOOCs nahmen weltweit 90.000 Personen teil, von denen sich 23.000 dem Online-Abschlussexamen stellten, also mehr als an der Eliteuniversität Stanford insgesamt eingeschrieben waren. Diese zahlenmäßigen Erfolge Thruns führten zu einem großen Interesse bei den Medien und in der Fachöffentlichkeit. In der gesamten Welt, auch in Deutschland, wurde das aus den USA kommende Phänomen damals lebhaft diskutiert. Schnell war von einer „digitalen Revolution der Hochschule“ zu lesen, von der „Globalisierung der Lehre“, von „Stanford für alle“. Gefragt wurde im gleichen Atemzug: Werden MOOCs schon bald die klassische Präsenz-Universität ersetzen? Manche sahen in MOOCs einen gezielten Angriff auf die öffentlichen Bildungsinstitutionen. Aus heutiger Sicht kann man sagen: Es gab sowohl überzogene Erwartungen, als auch überzogene Kritik.

Hasso Plattner stellte im ersten openHPI-Kurs eine Innovation vor

Als dann Ihr Fachgebiet Internet-Technologien und -Systeme am HPI sehr schnell die Plattform openHPI entwickelt hatte, übernahm Stifter Prof. Hasso Plattner die Leitung des ersten Kurses - mit Starttermin 3. September 2012. Was war sein Antrieb dazu?

Meinel: Hasso Plattner wollte eine Innovation im Datenbank-Management vorstellen, die hier an seinem Fachgebiet im HPI ab 2007 erforscht und zusammen mit dem Softwarekonzern SAP entwickelt worden war. Der Kurs dauerte acht Wochen, zog gut 15.000 Teilnehmer an und führte in die Einzelheiten der revolutionären neuen Hauptspeicher-Datenbanktechnologie, des In-Memory Data Managements, ein. Es geht dabei, vereinfacht gesagt, um die blitzschnelle Verarbeitung riesiger Datenmengen im Hauptspeicher von Hochleistungsrechnern. SAP hat die Technologie erfolgreich als Produkt „HANA“ implementiert. 2012 erhielten SAP und wir dafür den Deutschen Innovationspreis und den des Landes Brandenburg. Später hat Herr Plattner mehrere Neuauflagen seines Kurses organisiert und geleitet.

Bis dahin waren alle HPI-Professoren es gewohnt, Lehrstoff in Präsenzveranstaltungen zu vermitteln. Wie sind Sie und Ihre Kollegen persönlich mit der Umstellung auf Online-Lehre zurechtgekommen? Was sind Ihre Erfahrungen als Tele Teacher?

Meinel: Wir sind sehr pragmatisch damit umgegangen. Denn nüchtern und sachlich betrachtet, sind Massive Open Online Courses normalen Lehrveranstaltungen vergleichbar, die allerdings ausschließlich online, im Internet, ablaufen. Von den Inhalten und der Struktur her ähneln sie klassischen Angeboten der Universität: Es gibt Kurspläne, festgelegte Lernziele und definierte Termine. Die Lehrinhalte werden jedoch vollständig virtuell vermittelt – überwiegend per Videos, aber auch über schriftliche Dokumente. Lehrende und Lernende tauschen sich nicht vor Ort, im Hörsaal, aus, sondern über ein Kursforum. Wer teilnimmt, kann die eigenen Lernfortschritte durch Online-Quizzes und -Tests selbst kontrollieren, hat aber auch Hausaufgaben und Prüfungen zu absolvieren. Antworten auf Multiple Choice-Fragen werden dabei automatisch ausgewertet. Manchmal rufen wir die Teilnehmenden auch auf, sich gegenseitig zu bewerten. Insgesamt kann man sagen: Wir haben die spannende Herausforderung, uns auf die Online-Lehre mit einer angepassten Didaktik einzustellen, gut gemeistert und dabei selbst viel gelernt. Und der Lernprozess dauert an.

„Viel mehr Feedback – das muss man als Kursleiter bewältigen“

Wie wichtig war und ist die Diskussion unter den tausenden von Lernenden und mit den Lehrenden im Kursforum? Wie wichtig ist das Eingehen auf das Feedback durch das Kursbetreuer-Team?

Meinel: Hier liegt ein bedeutender Unterschied zur Präsenzlehre vor. Die große Zahl an Teilnehmenden sorgt für viel mehr Feedback – meist sehr qualifiziertes, gelegentlich aber auch weniger beeindruckendes. Das muss man als Kursleiter bewältigen. Der Aufwand ist nicht immer gering. Oft erhalten wir aber sehr sachkundige Hinweise von den Teilnehmenden an unseren Onlinekursen. Und wir brechen uns keinen Zacken aus der Krone, wenn wir daraufhin das Kursangebot inhaltlich anpassen. Selbst unser Stifter hat die Diskussionen in den Foren zu seinen Kursen stets aufmerksam verfolgt, teilweise persönlich Stellung genommen und ergänzende, vertiefende Inhalte in den laufenden Kurs einfügen lassen.

Ein Jahr nach dem openHPI-Start hat SAP die E-Learning-Technologie des HPI übernommen und nutzt sie seit dem 27. Mai 2013 erfolgreich für openSAP. Welchen konkreten Nutzen haben Unternehmen, wenn sie Mitarbeiter und Kunden mit MOOCs schulen?

Meinel: Die SAP-Bildungsinitiative war in der Wirtschaft eine Pioniertat. Denn als erster global tätiger Konzern griff SAP die von der Wissenschaft entwickelte neue Form des Lernens durch offene Online-Kurse für viele Teilnehmer auf und nutzte diese für ihre Zwecke. Seitdem bietet SAP über seine Massive Open Online Courses produktbezogene Bildungsinhalte weltweit nicht nur für seine Beschäftigten, Kunden und Partner an, sondern auch für Interessierte, die nicht zum Softwarekonzern und zur Branche gehören. Jedes Unternehmen, jede Institution steht heute vor der Herausforderung, in kurzer Zeit und dichter Folge viele Menschen schulen zu wollen oder zu müssen. Dafür stellen wir gerne unsere bewährte und skalierbare Plattform-Technologie zur Verfügung.

Wie stolz sind Sie darauf, dass die E-Learning-Technologie des HPI mittlerweile auch bei Epidemien und Pandemien hilft, sehr schnell sehr vielen Menschen in aller Welt lebenswichtiges medizinisches Wissen zu vermitteln? Die Weltgesundheitsorganisation macht ja mit OpenWHO regen Gebrauch davon…

Meinel: Die Weltgesundheitsorganisation WHO nutzt OpenWHO seit 2017, um ihr Personal, die medizinischen Teams in den Mitgliedsländern und die Bevölkerung bei Gesundheitsgefährdungen durch Epidemien und Pandemien zu informieren und zu schulen.  Zunächst wurde unsere Plattform-Technologie in Zusammenhang mit dem Ebola-Ausbruch 2017 in Afrika eingesetzt. Der traditionelle Weg der Wissensvermittlung war nur eingeschränkt wirksam. Als dann 2020 die Covid-19-Pandemie die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzte, bot unsere Plattform mit ihrer enormen Skalierbarkeit ein probates Mittel, die Angehörigen des weltweiten öffentlichen Gesundheitssystems tagesaktuell zu schulen: Innerhalb weniger Monate nahm die Zahl der Einschreibungen in Kurse von etwa 30.000 im Februar 2020 auf über fünf Millionen im Juli 2021 zu. Im September 2022 hat OpenWHO die Marken von sieben Millionen Einschreibungen überschritten. Mehr als zwei Millionen Zertifikate konnten ausgestellt werden.

„Uns war 2012 bewusst, in eine neue Ära der Wissensvermittlung zu starten“

Wenn sich praktisch jeder Internetnutzende jederzeit und von jedem Ort aus neuestes Uni-Wissen vermitteln lassen kann (und das noch kostenlos wie bei openHPI), dann senkt das Bildungshürden. Wie wichtig war und ist dem HPI die Demokratisierung des Zugangs zu hochwertiger Bildung?

Meinel: Als wir im September 2012 mit openHPI loslegten, war uns bewusst, dass wir damit in eine neue Ära der Wissensvermittlung starten. Jeder und jedem, ob mit oder ohne Abitur, wollen wir die Chance bieten, gratis die eigene Bildung auf dem neuen Feld der Digitalisierung zu verbessern und sich so vorzubereiten auf die digitale Transformation unserer Gesellschaft und auf deren aktive Mitgestaltung. Mit dem Begriff Demokratisierung des Wissens ist das treffend umschrieben.

Hasso Plattner lässt sich das HPI seit 23 Jahren und openHPI seit zehn Jahren eine Menge Geld kosten – zum Vorteil der real und virtuell Studierenden. Was treibt ihn als Deutschlands wohl bedeutendster Wissenschaftsmäzen an?

Meinel: Prof. Hasso Plattner, einer der Gründer des Softwarekonzerns SAP und dessen Aufsichtsratsvorsitzender, finanziert alles durch seine Stiftung. Unserem Mäzen liegt am Herzen, dass auch andere eine so gute Bildung geschenkt bekommen, wie er sie genoss. Gemeinsam sorgen wir dafür, dass in der weltumspannenden virtuellen Lerngemeinschaft des Hasso-Plattner-Instituts sich alle willkommen fühlen dürfen, die durch interaktives gemeinsames Lernen die digitale Welt besser verstehen und sie mitgestalten möchten. Jeder und jedem soll lustvolles, motiviertes Lernen im Internet, unabhängig von Bildungsabschluss, Aufenthaltsort oder Tageszeit, möglich gemacht werden. Dieselben angesehenen Wissenschaftler, die den Studierenden im HPI-Hörsaal aktuelle Erkenntnisse vermitteln, halten auf openHPI auch die Internetnutzerinnen und -Nutzer daheim, unterwegs oder im Büro auf dem Laufenden.

openHPI kommt jetzt ins Teenager-Alter. Was geben Sie der offenen Lernplattform als Geburtstags-Glückwunsch mit auf den Weg? Und was glauben Sie – wie und wohin wird sich die Plattform in den nächsten Jahren wohl entwickeln?

Meinel: Ich wünsche openHPI, dass noch viele weitere Interessierte an lebensbegleitendem Lernen auf diese nützliche Plattform aufmerksam werden – in aller Welt. Wir streben eine größere internationale Reichweite an und prüfen im Augenblick, ob und gegebenenfalls wie wir auf die steigende Nachfrage nach Micro-Degrees, also Abschlüssen für einzelne, kompakte Studienabschnitte, sowie nach vollständigen Online-Studiengängen mit Masterabschluss reagieren.

Wir danken für dieses Gespräch!

*Das Gespräch führte Hans-Joachim Allgaier

Bildergalerie: Prof. Christoph Meinel